| von Hanne Tügel

ABC beim Tee – viel mehr als Sprachunterricht

Das „H“ ist ein tückischer Buchstabe. In Farsi gibt es so einen Laut nicht, der nach nichts klingt als nach angestrengt ausgestoßenem Atem. „Holz“, „Haus“, „Hund“, „Herz“ sprechen neun Afghaninnen Jutta Weber nach. Die hält Bildkärtchen hoch und wiederholt den Unterschied zwischen der Aussprache von „Haus“ und „aus“. Die Teilnehmerinnen versuchen den richtigen Klang zu finden, sprechen solo und im Chor, hauchen, lachen, üben, und irgendwann gelingt auch das seltsame deutsche „H“.

Lehrerin
Unterricht: Helga, eine von zehn Ehrenamtlern

Es ist Mittwoch morgen. Nach und nach sind die Frauen vom Containerdorf in die Hongkongstraße gekommen, mit Kinderwagen, Babys auf dem Arm, Kleinkindern an der Hand, dazu einige Ältere, deren Kinder längst erwachsen sind. Hier stellt die Firma Gebrüder Heinemann Räume für die „Schule für Frauen mit Babys und Kleinkindern“ Verfügung. Die Teilnehmerinnen haben ihre Hefte aus dem Schrank genommen, ihre Namensschilder aufgestellt und schauen die neuen Arbeitsblätter an. Die Anfängerinnen bei Jutta Weber lernen noch Buchstaben und den ersten Grundwortschatz. Für die Fortgeschrittenen im zweiten Gruppenraum ist das schon Vergangenheit. Hier übt Bettina Pfleiderer mit ihren Schützlingen Modalverben in Aussage- und Fragesätzen. „Wir brauchen einen Arzt.“ „Du brauchst nicht aufzustehen.“ „Möchtest du Tee trinken?“ „Wohin sollen wir zum Teetrinken gehen?“

Jeder Politiker, jeder Migrationsforscher mahnt: Die fremde Sprache zu erobern, irgendwann mitreden zu können, ist ein Schlüssel zur Integration. Die Deutschkurse von Ehrenamtlern sind eine wichtige Ergänzung zu den von den Ämtern organisierten Kursen, denn zu denen haben längst nicht alle Flüchtlinge Zugang. „Deutsch – Sprechen. Lesen. Schreiben“, hat die Deutsch AG der Flüchtlingshilfe Hafencity ihr Angebot für die Wohnunterkunft Kirchenpauerstraße genannt. Zehn Betreuer und Betreuerinnen von Anfang 20 bis Anfang 80 kümmern sich viermal in der Woche in Gruppen um Schüler und Schülerinnen zwischen Teenie- und Großeltern-Alter aus Afghanistan, Syrien, Irak und Eritrea. Einmal im Monat treffen sie sich zur Koordination.
Mittwoch Vormittag findet der Kurs statt, der sich speziell an Frauen richtet. Um die Kinder kümmert sich Karola Menßen, die Fotografin ist, in St. Pauli wohnt, selbst zwei kleine Kinder hat und bei Facebook auf die Initiative gestoßen ist. Für die Betreuung steht das Mittelzimmer mit Riesenkuscheltieren und Spielzeug zur Verfügung – so sind die Kleinen in Sichtweite, trotzdem können die Mütter sich aufs Lernen konzentrieren. Diese  ideale Situation ist der Flüchtlings-Aktivistin Leyla Oehlrich zu verdanken, die in den von der Firma Gebr. Heinemann zur Verfügung gestellten Räumen auch an anderen Wochentagen Mutter-Kind-Betreuung organisiert.

Jutta Weber, studierte Diplom-Pädagogin, koordiniert die AG Deutsch. Die Zeiten, die für Frauen reserviert sind, liegen ihr besonders am Herzen. „In der Gruppe  sind einige dabei, die in ihrer Muttersprache nie Lesen und Schreiben gelernt haben“, erklärt sie. „In der fremden Sprache dann die ersten Buchstaben zu Worten zusammenzusetzen, ist ein unglaubliches Erlebnis.“

Wer zuschaut, sieht den Spaß am Lernen, die Wissbegier, den Stolz in den Gesichtern, wenn ein Wort gelernt und zu Papier gebracht ist. „Ei“, Eimer“, „Bein“, „Leiter“, „Zeitung“ - wieder ein paar Puzzlesteine mehr, um im neuen Leben zurechtzukommen. Am Anfang tauchen dabei immer wieder Hürden auf. Warum wird das „i“, das plötzlich ganz anders gesprochen, wenn es im Doppellaut „ei“ hinter dem „e“ steht? Logik hilft nicht weiter, Lachen hilft immer. Die Atmosphäre ist gut gelaunt, konzentriert, dabei stressfrei. Nach dem neuen Stoff wird Bekanntes wiederholt. Zum Beispiel Zahlen. Jutta Weber hat Lineale und Maßbänder mit gebracht, und ihre Schülerinnen messen zu zweit und notieren die Länge und Breite von Arbeitsblättern, Heften, verschieden großen Briefumschlägen, von den Tischen, an denen sie sitzen. Und zum großen Gaudi messen sie sich selbst. 155, 159, 161 Zentimeter – ja, stimmt; es ist dieselbe Größe, die im Ausweis steht.

Pause bei Tee und Toast. Vokabeln und Grammatik sind ja nur die eine Seite der gemeinsamen Zeit, die Kurse bieten viel mehr. Zeit für Begegnungen mit den Muttersprachlerinnen und untereinander. Guten Rat, wenn es um Formulare der Behörden geht oder um Probleme mit den Kindern in der Schule.
Zwei Tage später: Besuch im Deutsch-Café, das montags und freitags in der Wohnunterkunft stattfindet und für Männer und Frauen geöffnet ist. Die Fortgeschrittenen machen Konversation, lassen sich bei Schularbeiten helfen oder üben für Sprachprüfungen. Für die Anfänger-Gruppe hat Helga Arntzen Fotos an die Tafel gehängt. Ein Kreuzfahrtschiff, einen Großsegler, ein Elbpanorama mit vielen Booten. Daneben schreibt sie das Wort „Hafengeburtstag“; der steht ein paar Tage später bevor. Es ist nicht ganz einfach zu erklären, was es bedeutet, dass ein Hafen Geburtstag hat und was da passiert. Schiffe kommen, Schiffe fahren wieder weg. Es gibt ein Feuerwerk.

Irgendwann kommt das Thema auf die Familie. Ja, in Afghanistan ist es möglich, als Mann vier Ehefrauen gleichzeitig zu haben, während das in Deutschland nur nacheinander geht. Hierzulande leben Frauen oft auch ohne Ehering mit einem Partner zusammen und sind manchmal auch ohne Kinder glücklich.

Helga Arntzen war jahrzehntelang Lehrerin und wohnt am Kaiserkai in der Martha-Stiftung. Was bewegt sie dazu, sich mit 78 Jahren noch einmal an die Tafel zu stellen? Sie mag „die offene Atmosphäre und die entstehende Kommunikation“ in dieser ganz andere Art von Unterricht: „Man hat das Gefühl, dass die Teilnehmer sich hier wohlfühlen. Man lernt gegenseitig. Und man wird anerkannt.“ Und das nicht nur von den Schützlingen, denen sie über ihre Stadt erzählt, sondern auch von den Mitstreitern in der Deutsch AG und der Flüchtlingshilfe. „Es ist eine Bereicherung. Man lernt Nachbarn ganz anders kennen.“

Wer Lust hat, selbst in der Deutsch AG aktiv zu werden, muss kein Pädagoge sein. Jede/r Interessierte ist gern gesehen und kann sich bei Sprach-Spielen, Schularbeitenhilfe, Einzelbetreuung das Talent als Deutsch-Mentor/in ausprobieren. Kontakt: Juttaweber@aol.com


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